Frau Glaßmeyer, Herr Elberfeld, Prominente erzählen von ihren Depressionen, politische Magazine wie Der Spiegel setzen den Begriff „Achtsamkeit“ aufs Cover. Psychologische Themen scheinen allgegenwärtig zu sein. Wie nehmen Sie das wahr?
Anke Glaßmeyer: Ich erlebe das auch so. Sicherlich ist das ein „Blaseneffekt“, weil ich natürlich vor allem mit Menschen in Kontakt komme, die sich für Psychologie interessieren, aber ich glaube trotzdem, dass es mehr wird. Menschen setzen sich mit mentaler Gesundheit…
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interessieren, aber ich glaube trotzdem, dass es mehr wird. Menschen setzen sich mit mentaler Gesundheit auseinander und suchen tendenziell früher Hilfe in meiner Praxis, auch wenn die Wartezeiten noch immer zu lang sind, weil Therapieplätze fehlen.
Jens Elberfeld: Da möchte ich dagegenhalten – Historiker haben ja den Ruf, Mythenfresser zu sein. Das Interesse an Psychothemen ist nichts Neues. Im Spiegel erschien 1959 eine große Titelstory über Sigmund Freud und die Psychoanalyse. Der Soziologe Philip Rieff sprach schon Mitte der 1960er Jahre von einem „Triumph des Therapeutischen“, das die Religion als sinnstiftende Instanz abgelöst habe.
In Westdeutschland setzte spätestens mit dem alternativen Milieu der 1970er Jahre ein regelrechter Psychoboom ein: Selbsterfahrungsgruppen kamen in Mode, Selbsthilferatgeber fanden reißenden Absatz, immer mehr Menschen suchten einen Therapeuten auf.
Ist wirklich gar nichts neu an dem psychologischen Interesse?
Elberfeld: Neu sind einzelne Begriffe und Konzepte, die erst in den letzten Jahren groß rausgekommen sind, zum Beispiel Achtsamkeit. Und auch eher neu sind diese – ich würde fast sagen – Outings, also prominente oder semiprominente Menschen, die in die Öffentlichkeit gehen und sich dazu bekennen, dass sie psychisch krank sind. Allerdings bin ich auch da etwas zwiegespalten, weil es einerseits stimmt, dass Erkrankungen jetzt öffentlich gemacht werden; gleichzeitig sind die Hemmschwellen im Alltag noch immer riesig.
Sie meinen, dass viele Menschen eben doch nicht über die eigene Diagnose sprechen?
Elberfeld: Beispielsweise in meinem Arbeitsumfeld, der Universität, gelten psychische Erkrankungen immer noch als riesiges Problem. Viele Leute erzählen nichts davon, weil sie befürchten, nicht mehr ernst genommen oder vielleicht nicht verbeamtet zu werden. In anderen Branchen passiert Ähnliches.
Nach dem Motto: Wenn eine andere Person eine Depression hat, würde ich versichern, dass es selbstverständlich angebracht ist, sich therapeutische Hilfe zu suchen. Aber ich selbst will auf keinen Fall betroffen sein?
Glaßmeyer: Es kommt schon sehr darauf an, um wen es sich handelt. Wenn ich Lehramtsstudierende in meiner Praxis behandle, die verbeamtet werden wollen, sagen immer mehr von ihnen: „Ich gehe offen damit um und suche mir Hilfe. Ich lasse die Krankenkasse bezahlen und mache die Therapie nicht auf Selbstzahlerbasis. Und wenn ich später deshalb nicht verbeamtet werde, dann ist das halt so. Aber vielleicht kann ich dazu beitragen, dass sich das System und die Gesellschaft ändern.“ Anscheinend handhaben die Ämter das auch tatsächlich nicht mehr per se so streng, dass man wegen einer Psychotherapie nicht verbeamtet wird.
Sind das einzelne Patientinnen oder Patienten, die aus altruistischen Motiven zum Vorbild werden wollen?
Glaßmeyer: Nein, als altruistisch würde ich das nicht bezeichnen. Die Jüngeren wissen eher: Ich bin so verzweifelt, dass ich jetzt Hilfe brauche. Wenn ich mir sie jetzt nicht suche, bin ich spätestens im Referendariat so am Ende, dass ich gar nicht mehr arbeiten kann. Aber bei vielen Älteren ist es natürlich noch ein Tabu.
Elberfeld: In meinen Sprechstunden mit Studierenden bemerke ich diese Haltung ebenfalls. Vor allem jetzt, nach Corona suchen sehr viele nach psychologischer Hilfe und Beratung – da kann ich natürlich nur weiterverweisen. Diese Erfahrungen passen auch in das Bild, dass die Beschäftigung mit sich selbst ein Mittelschichtsphänomen ist.
Und in dieser Mittelschicht vor allem bei Frauen?
Elberfeld: Mein Bauchgefühl ist das auch, aber ich habe keine Zahlen dazu. Ich weiß aber aus Statistiken der Telefonseelsorge, dass zumindest früher mehr Frauen als Männer angerufen haben und mehr Menschen aus bürgerlichen als aus nichtbürgerlichen Schichten. Ein weiteres Phänomen ist: Ein Mann, der sich therapeutische Hilfe sucht, muss sich viel stärker rechtfertigen, weil Eigenschaften wie Schwäche auf einmal eine Rolle spielen, die anscheinend nicht zu Männlichkeitsidealen passen. Bei Frauen ist das eher akzeptiert. Und noch mal anders ist es beispielsweise bei Menschen, die von Bürgergeld leben müssen. Die haben ganz andere Sorgen.
Glaßmeyer: Es ist natürlich ein Privileg, sich mit sich auseinandersetzen zu können. Zu überlegen: Wie kann ich mich weiterentwickeln oder welchen Ratgeber kann ich mir kaufen, um Lösungen für meine Probleme zu finden? Grundsätzlich wäre mein Wunsch, dass man gerade denen, die keinen so leichten Zugang zu Bildung haben, mehr fundiertes psychologisches Wissen vermittelt, zum Beispiel in der Schule.
Elberfeld: Was ich gerade spannend fand bei Ihren Ausführungen: Es handelt sich gewissermaßen um einen therapeutisierten Lebensstil. Die Leute lesen Bücher, befassen sich online mit dem Thema, dann merken sie, dass sie ihr Ziel noch nicht erreicht haben, gehen zum Coaching und vielleicht auch noch zur Therapie. Aus gesellschaftlicher Perspektive ist es sehr interessant, wie man seine gesamte Selbstwahrnehmung und Lebensführung auf psychisches Wohlbefinden und Krankheit richten kann, eine völlige Konzentration nur auf das eigene Ich und die eigene Person.
Welche Effekte hat das?
Elberfeld: Das kann sowohl positive als auch negative Effekte haben. Fest steht: Wenn ich nur lange genug nach Problemen bei mir suche, werde ich irgendwann welche finden, weil ich sie ein Stück weit selbst erzeuge.
Glaßmeyer: Ja, schon, trotzdem finde ich es gut, dass mehr Menschen anfangen, sich mit sich auseinanderzusetzen. Ich glaube, wir leben mittlerweile in einer Zeit, in der wir mehr Kapazitäten dafür haben. Natürlich ist das individuell unterschiedlich, aber in der Nachkriegszeit stand zum Beispiel erst einmal der Wiederaufbau im Vordergrund, nicht die Bearbeitung von Traumata. Dass es jetzt – zumindest in der Theorie – eine Vielzahl unterschiedlicher Angebote gibt, ist doch wunderbar. Praktisch gesehen fehlen natürlich noch viele Therapieplätze.
Es ist interessant, dass Sie sagen: „Wir haben Kapazitäten dafür.“ Heißt das: Früher ging es uns eigentlich schlechter, aber jetzt dürfen wir endlich rauslassen, wie mies wir uns fühlen? Oder ist die Beschäftigung mit sich selbst, der Rückzug ins Private auch eine Flucht, weil die Welt da draußen zu furchtbar ist?
Glaßmeyer: Die Menschen sind durch Corona und die Kriegsnachrichten schon sehr belastet. Es sind turbulente Zeiten, in denen es aber mittlerweile mehr Angebote gibt als früher und mehr Gefühle zugelassen werden.
Elberfeld: Auch da gibt es gewisse Konjunkturen. Bei der Telefonseelsorge werden die Gesprächsthemen stichwortartig erfasst. In den 1980er Jahren wollten viele Anruferinnen und Anrufer über Tschernobyl, den Kalten Krieg und ihre Angst vor dem Atomkrieg sprechen. Sie hatten das Gefühl, sich angesichts der Krisen Hilfe suchen zu müssen, um seelisch zurechtzukommen.
Gesellschaftlich betrachtet können solche Reaktionen problematisch sein. Wir sind mit immer größeren Anforderungen im Alltag, Berufsleben und in der Familie konfrontiert. Und als Gegenmittel werden dann Techniken wie Achtsamkeit präsentiert, die ich erlernen soll, um mehr auf mich selbst zu achten, damit ich dann letztlich einfach weiter funktioniere. Eine andere Perspektive wäre, festzustellen: Vielleicht gibt es in der Gesellschaft strukturelle Probleme, so dass manches in eine vollkommen falsche Richtung läuft.
Schließt die eine die andere Perspektive denn aus?
Elberfeld: Nehmen wir mal das Problem der Verdichtung von Arbeit: Solche Probleme geraten aus dem Blick, wenn man zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist. Man versucht, mit dem Wahnsinn, der um einen herum passiert, irgendwie klarzukommen, anstatt etwas gegen den Wahnsinn zu unternehmen.
Glaßmeyer: Da stimme ich vollkommen zu. Ich arbeite mit dem Individuum an Verhaltensveränderungen, damit es mit strukturellen Schwierigkeiten besser umgehen kann. Aber die Rahmenbedingungen selbst ändern sich dadurch natürlich nicht. Das ist ein wichtiger Punkt. Wenn sich politisch manches bewegen würde, würden manche Belastungen sicher abnehmen. Aber solange das nicht der Fall ist, brauchen wir Angebote für psychische Gesundheit.
Platt gesagt: Geh zur Demo statt zur Therapie?
Glaßmeyer: Am besten beides.
Mal abgesehen von der Frage nach gesellschaftlichem Engagement tauchen auch in der Alltagssprache inzwischen sehr viele psychologische oder pseudopsychologische Begriffe auf. Beziehungen werden als toxisch bezeichnet, Kindheitserfahrungen als traumatisch und in Filmen werden Triggerwarnungen angezeigt…
Glaßmeyer: Solche Formulierungen finde ich schwierig. Triggerwarnungen könnte man zwar als Rücksichtnahme auslegen, weil Betroffene dadurch scheinbar entscheiden können, ob sie etwas sehen möchten. Studien zeigen aber, dass das Interesse durch Warnungen noch gesteigert werden könnte.
Davon abgesehen sind solche Hinweise mittlerweile total verwässert und letztlich kann ja alles ein Trigger sein – eine Blume, irgendein Geruch… Auch wenn jemand sagt: „Ich war gestern voll depri“, und damit meint: „Ich war gestern traurig“, wird das der Diagnose „Depression“ überhaupt nicht gerecht. Oft werden Begriffe auch falsch benutzt, zum Beispiel „schizophren“. Mit Schizophrenie verbinden viele eine Person mit mehreren Persönlichkeiten. Dabei wäre das eine dissoziative Identitätsstörung. Schizophrenie ist etwas völlig anderes.
Aber man könnte auch argumentieren: Dass solche Begriffe überhaupt verwendet werden, kann zur Entstigmatisierung von Erkrankten beitragen.
Glaßmeyer: Entstigmatisierung ist natürlich positiv und prinzipiell ist es auch zu begrüßen, wenn psychologische Begriffe mehr in der Gesellschaft ankommen. Aber es wäre trotzdem gut, wenn sie richtig und passend verwendet würden. Manche sind auch pseudowissenschaftlich und haben mit Psychologie nichts zu tun. Das ist der Knackpunkt.
Ist es für Sie dann nicht auch eine Gratwanderung, auf Instagram aktiv zu sein? In den sozialen Medien muss man um Aufmerksamkeit kämpfen und hat nur wenige Zeichen für Erklärungen.
Glaßmeyer: Absolut. Meine Posts sind aber verhältnismäßig lang, weil es mir wichtig ist, dass sie trotz der knappen Zeichenzahl wissenschaftlich fundiert sind. Dadurch hat mein Account nicht so eine große Reichweite wie andere, die mit Buzzwords hantieren. Nichtsdestotrotz habe ich schon öfter überlegt, ob der Kanal für mich weiter Sinn ergibt. Ich poste in meiner Freizeit, ich verdiene kein Geld damit. Letztlich glaube ich aber, dass wir auch Psychotherapeut:innen in den sozialen Medien brauchen, weil sich dort sonst nur Lifecoaches, Heilpraktiker:innen oder andere melden, die teilweise Hanebüchenes und Gefährliches von sich geben.
Elberfeld: An Ihren Äußerungen kann man schön sehen, welche Revierkämpfe stattfinden – das ist „Ihr Gebiet“ und dort sind die Scharlatane. Aber weil die Themen populär sind, werden sie immer unterschiedlichste Gruppierungen und Personen anziehen. Ich habe neulich aktuelle Zahlen gesehen, laut denen allein in Westeuropa geschätzte 30000 Businesscoaches tätig sind.
Glaßmeyer: Ich bin ab jetzt Coach für Wüstenrennmäuse!
Elberfeld: Ich auch!
Ich würde gern noch einmal das Thema „Prominente“ aufgreifen. Mein Eindruck ist: Über Diagnosen wie Depressionen darf man sprechen, über andere, zum Beispiel Alkoholabhängigkeit eher nicht.
Elberfeld: Was mir dabei vor allem auffällt: Wenn Prominente über ihre Erkrankung sprechen, dann nur wenn sie sie zumindest ein Stück weit überwunden oder einen erfolgreichen Umgang damit gefunden haben. Es ist schon fast ein Genre geworden, dass Leute über ihren Leidensweg und ihre Heilung Autobiografien schreiben.
Eine Heldengeschichte: Ich habe gekämpft und gewonnen?
Elberfeld: Ja, eine Heldengeschichte, die sich im besten Fall positiv auf das Image der Person auswirkt. Aber der Junkie aus dem Bahnhofsviertel bekommt deshalb nicht mehr Verständnis. Entscheidend ist also, ob man sein Elend als Erfolgsgeschichte vermarkten kann oder ob es Elend bleibt.
Glaßmeyer: Ich glaube, gerade Alkoholabhängigkeit ist auch deshalb ein Stigma, weil es in vielen Teilen der Gesellschaft zwar normal und anerkannt ist, Alkohol zu trinken, der Sucht aber das Klischee vom betrunkenen, willensschwachen Obdachlosen anhängt. Wenn man allerdings dokumentieren würde, was manche Menschen so trinken, würden ziemlich viele nach ICD-10-Kriterien als alkoholabhängig eingestuft. Wahrscheinlich ist es also tatsächlich so, dass einige Diagnosen aktuell noch ein Tabu sind. Da kann es hilfreich sein, wenn sich Betroffene öffentlich zu Wort melden, auch für uns Therapeut:innen.
Inwiefern?
Glaßmeyer: Zum Beispiel hat Angelina Boerger in ihrem Buch Kirmes im Kopf ihre ADHS beschrieben. Natürlich kann man es kritisch sehen, dass jetzt viele darüber nachdenken, ob sie das auch haben. Es führt aber auch zu einer Sensibilisierung. Ich habe in meiner Weiterbildung zur Psychotherapeutin nichts zu ADHS bei Erwachsenen gelernt. Inzwischen weiß ich einiges über die Erkrankung. Auch durch Bücher und Inhalte von Betroffenen.
Elberfeld: Da muss ich mal einhaken. Ich kenne die genauen Zahlen nicht, aber man wird in jeder Schule zig Kinder mit dieser Diagnose finden. Dabei ist das regelüberschreitende Verhalten im Unterricht erst mal nur ein Problem für die Institution Schule, weil der Unterricht nicht wie geplant funktioniert. Aber die einfachste Variante ist eben: Das Kind muss Tabletten nehmen. Da stellt sich schon die Frage, ob etwas anderes nicht hilfreicher wäre, zum Beispiel kleinere Klassen.
Glaßmeyer: Genau, das Kind muss Tabletten nehmen, dann hat die Schule Ruhe. Klasse! Im Ernst: Es ist sicher nicht immer richtig, direkt Tabletten zu geben, gleichzeitig muss man aber den individuellen Leidensdruck sehen und das Kind, das akut Hilfe braucht in einer Situation, die sich erst mal nicht ändert.
Kann es sein, dass allgemein die Akzeptanz sinkt, sich mit Unvollkommenheit abzufinden, und der Druck, an sich arbeiten zu müssen, steigt?
Glaßmeyer: Es ist sicherlich so, dass durch die Leistungsgesellschaft viel Druck entsteht zu performen. Aber in der Psychotherapie arbeitet man ja genau nicht daran, einen Menschen zu behandeln, damit er mehr leisten kann, sondern ihm soll bewusstwerden, dass er gar nichts leisten muss, um wertvoll zu sein und eine Daseinsberechtigung zu haben. Und wenn eine Person einen Leidensdruck verspürt, ist es ihr gutes Recht, daran zu arbeiten. Psychotherapie macht das Leben nicht happy und problemlos, aber man lernt, mit gewissen Umständen anders umzugehen.
Elberfeld: Es gibt schon gesellschaftliche Anforderungen, ich möchte sogar sagen Zumutungen, in einer bestimmten Art und Weise an sich selbst arbeiten zu müssen. Das betrifft nicht nur die Frage psychischer Gesundheit, sondern auch den Körper, Schönheitsideale und so weiter. In immer mehr Bereichen werden Anforderungen gestellt, die man erreichen soll und bei denen suggeriert wird, man sei verantwortlich, wenn man sie nicht erreicht. Das Hamsterrad der Selbstoptimierung. Dieses Phänomen hat in den letzten 20, 30 Jahren extrem zugenommen.
Und Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten tragen mit dazu bei. Natürlich sagen Sie persönlich, Frau Glaßmeyer: „Wir versprechen nicht, dass alle glücklich werden.“ Aber der Diskurs funktioniert ja schon so, dass ich mich so und so lange um mich kümmere und mache, was Ratgeber sagen oder meine Therapeutin sagt, und dass ich dann ein glücklicherer, zufriedenerer Mensch werde.
Glaßmeyer: Das wäre ein Heilversprechen, wenn ich sagen würde, dass meine Patient:innen glücklich werden, wenn sie nur XY machten. Das wäre strafbar.
Aber wäre es nicht sogar schlimm, wenn man von vornherein keine Hoffnung auf Veränderung hätte?
Elberfeld: Freud hat mal gesagt, es gehe in der Psychoanalyse darum, hysterisches Elend in gemeines Unglück zu verwandeln. Er sagt Unglück, nicht Glück. Eine gewisse Form von Unglücklichsein gehört demnach zum Leben dazu.
Inwiefern trägt auch ein wachsender Individualismus dazu bei, dass man meint, an sich arbeiten zu müssen?
Elberfeld: Wo Individualismus schon reinspielt, das sind solche Bereiche wie Partnerschaft, Familie, Erziehung. Da bedeutet „individuell sein“, nicht mehr das klassische Modell zu leben – der Mann als Oberhaupt der Familie und so weiter. Diese klaren normativen Leitbilder haben an Bedeutung verloren.
Die Kehrseite ist, dass man viel mehr auf sich selbst zurückgeworfen ist und entscheiden muss, welches der zig verschiedenen Beziehungs- oder Erziehungsmodelle für einen selbst passt. Das kann zu Überforderung, Halt- und Hilflosigkeit führen. Die Soziologin Sabine Maasen hat diesbezüglich Psychotherapie, Beratung und Coaching als Instrumente zur „Kontingenzbewältigung“ bezeichnet. Grob gesagt bedeutet das: Sie bieten eine Form des Umgangs mit gesellschaftlich zunehmender Unsicherheit an.
Glaßmeyer: Ich habe auch Patient:innen, die mir sagen: „Ich möchte gerade gar nichts verändern.“ Natürlich liegt das manchmal an der Diagnose. Und es gibt Ausnahmen, wenn jemand stark untergewichtig ist oder suizidal. Da muss man handeln. Aber so wie jede Person das Recht hat, Krisen als Chance zu nutzen, hat natürlich auch jede:r das Recht, krank zu bleiben.
Für Unternehmen ist das natürlich ein riesiges Problem, wenn sich alle einfach krankmelden.
Glaßmeyer: Da kommen wir wieder auf strukturelle Probleme, dass Vorgesetzte ihr Team verfeuern. Aber wenn so viele erkranken, kommen Arbeitgeber:innen und Politiker:innen hoffentlich auch irgendwann ins Nachdenken.
Frau Glaßmeyer, Herr Elberfeld, vielen Dank für dieses Gespräch.
Auf Wunsch von Anke Glaßmeyer sind ihre Gesprächspassagen mit einem Doppelpunkt gegendert
Jens Elberfeld ist wissenschaftlicher Assistent im Bereich Historische Erziehungswissenschaft der Universität Halle-Wittenberg. 2020 erschien seine Dissertation Anleitung zur Selbstregulation. Eine Wissensgeschichte der Therapeutisierung im 20. Jahrhundert.
Anke Glaßmeyer arbeitet als Psychologische Psychotherapeutin in eigener Praxis in Ibbenbüren. Ihrem Instagramkanal diepsychotherapeutin folgen rund 40000 Menschen. Kürzlich erschien ihr Buch Selbstfürsorge. Dein Anker in turbulenten Zeiten.