Wie die Kommunikation mit Demenzerkrankten gelingt

Wenn die Erinnerung verloren geht und das Rationale den Emotionen weicht: Ein Gespräch über die Kommunikation mit an Demenz erkrankten Menschen.

Die Illustration zeigt eine Frau mit einer Pflegekraft und vergangenen Erinnerungen in einem wilden Garten
Ein Mensch mit Demenz legt nach und nach alle seine Schalen ab. Übrig bleiben blanke, mitunter auch verdrängte Emotionen. © Ramona Ring für Psychologie Heute

Frau Nachum, wenn meine Mutter Gesprächsinhalte vergisst, wird mir mulmig und ich frage mich, ob sich da eine beginnende Demenz zeigt. Müsste ich als Angehörige jetzt etwas tun?

Man muss unterscheiden zwischen Altersvergesslichkeit und Demenz. Ein persönliches Beispiel: Heute Morgen ist mir der Zugangscode für mein Bankkonto nicht eingefallen. Jetzt könnte ich sofort einen Termin in einer neurologischen Praxis ausmachen. Aber oft hat Vergesslichkeit nur mit Überforderung oder Müdigkeit zu tun oder mit…

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ausmachen. Aber oft hat Vergesslichkeit nur mit Überforderung oder Müdigkeit zu tun oder mit Interferenz, also dass einem mehrere Inhalte gleichzeitig im Hirn herumschweben. Man kennt das, wenn man in den Abstellraum geht und auf dem Weg vergisst, was man dort holen wollte. Das passiert allen.

Der Unterschied zwischen Altersvergesslichkeit und Demenz ist, dass man sich bei Vergesslichkeit irgendwann wieder an den Code fürs Bankkonto erinnert. Wenn man aber gar nicht mehr auf die Information zugreifen kann und vielleicht sogar das „Gesamtpaket“ ablehnt, also sagt: „Ich habe nie einen Code fürs Banking bekommen“, könnte es sich um eine demenzielle Veränderung handeln.

Aber dann ist man wahrscheinlich schon mittendrin. Welche frühen Signale gibt es für Angehörige?

Man sollte die Person ein halbes Jahr gut beobachten, denn kognitive Fähigkeiten können durch unterschiedliche Ursachen abhandenkommen, zum Beispiel durch Harnwegsinfekte. Das passiert im Alter oft, man hat Flüssigkeitsmangel und das kann Orientierungslosigkeit verursachen. Viele Ältere trinken sowieso wenig, weil sie Angst haben, nachts aufstehen zu müssen. Es kann auch ein Vitaminmangel sein oder eine Veränderung im persönlichen Umfeld, wie etwa ein Umzug. Deshalb rate ich Angehörigen immer, ein halbes Jahr lang aufzuschreiben, was ihnen auffällt.

Und wenn man weiter entfernt wohnt?

Dann gibt es hoffentlich Leute, die mehr Einblicke in den Alltag der Person haben – Nachbarn oder Freundinnen. Die sollte man auch fragen. Und man sollte öfter anrufen, wenn häufige Besuche nicht machbar sind.

So würde man merken, dass etwas nicht stimmt?

Bei einer beginnenden Veränderung spüren die Betroffenen das als Erste. Sie wissen nicht: Habe ich heute mit meiner Tochter telefoniert? Habe ich den Einkauf schon erledigt? Sich nicht zu erinnern ist unangenehm. Wenn also jemand fragt: „Mama, was hast du heute gegessen?“, sagt die Mutter lieber etwas, was ihr zufällig einfällt. Oder sie sagt fünfmal hintereinander „Lasagne“. Oder sie wehrt ab: „Hör mal auf mit dem blöden Essen.“

Das ist übrigens ein wichtiger Unterschied zur Depression: Während depressive Menschen bei Defiziten eher dramatisieren, sind die Antworten bei Demenz eher bagatellisierend und patzig. Angehörige sind dann oft gekränkt oder verletzt.

Dabei ist das nur der Versuch, weitere Fragen abzuwehren?

Ja, weil es um Kontrollverlust geht. Das ist für jeden eine Demütigung. Wir haben alle nicht gelernt, mit Verlusten umzugehen. Wir sind Meister im Vertuschen. Wir müssten mehr Transparenz und Offenheit entwickeln.

Heißt das, man sollte offen ansprechen, dass man sich Sorgen macht?

Am Beginn einer Veränderung würde ich das nicht. Das löst in der Regel nur Ablehnung aus, denn das Gegenüber soll ja nicht merken, dass ich nicht mehr die Person bin, die ich einmal war.

Inwiefern helfen Medikamente, wenn man sie frühzeitig einnimmt?

Demenz ist nicht heilbar. Antidementiva können die Veränderung um ein Jahr hinauszögern, wenn man sie rechtzeitig nimmt, aber sie haben Nebenwirkungen, zum Beispiel Übelkeit und Schwindel. Wichtig wäre in dieser Phase vor allem, dass sich Angehörige Wissen über Demenz aneignen: welche Formen der Begleitung es gibt, ob man neurologische Tests machen muss und so weiter.

Könnte man Demenztests zur Früherkennung machen?

Ich will die Tests nicht verteufeln, aber sie sind nur eine Momentaufnahme. Sie müssen sich mal die Situation vorstellen: Es wird überprüft, ob man deppert ist. Das ist eine extreme Stresssituation und furchtbar demütigend. Eine Frage ist: „Welcher Wochentag ist heute?“ Wenn man im Heim wenig Termine hat, kann man da schon durcheinanderkommen.

Auch die Stressresistenz in Prüfungssituationen ist unterschiedlich ausgeprägt: Manche können sich gut konzentrieren und meistern den Test, obwohl sie im Heim nicht mehr wissen, wo ihr Zimmer ist. Andere sind vollkommen blockiert. Sinnvoller fände ich es deshalb, Gespräche zu führen und zu beobachten und dafür einen Kriterienkatalog zu erstellen.

Sie selbst wenden bei Gesprächen mit Älteren die „Validation nach Naomi Feil“ an. Wie funktioniert das?

Validation kommt aus dem Lateinischen und bedeutet „etwas für gültig erklären“. Validation ist eine Kommunikationsmethode und, noch wichtiger, eine Haltung, nämlich sich empathisch in das Gegenüber einzufühlen. Wenn zum Beispiel eine Frau ihre Kinder sucht, muss das ein schreckliches Gefühl sein. Das ist das, was gilt. Man sollte nicht versuchen, ihr zu beweisen, dass sie gar keine Kinder hat, oder sie abzulenken und zu sagen: „Jetzt gibt’s einen guten Kaffee.“ Leider wird das aber oft gemacht, aus Hilflosigkeit oder auch aus Frustration, weil die Person alle 15 Minuten klingelt.

Aber jedes Verhalten hat eine Ursache. Diese Ursache ist nicht im Jetzt entstanden, sondern im Gestern, aber sie zeigt sich im Jetzt aufgrund der kognitiven Veränderung: Vielleicht musste die Frau ein uneheliches Kind abtreiben und konnte nicht darüber sprechen, bis die Demenz nun bei ihr alles Rationale verschwinden lässt und die Emotionen hervorholt. Es fasziniert mich immer wieder, wie der Mensch am Ende des Lebens all seine Schalen ablegt und sich vom gesellschaftlichen Korsett befreit. Er kann endlich seine Emotionen offen zeigen und die Person sein, die er sein will. Übrig bleibt der „Kernmensch“. Eigentlich tragisch, dass man dazu erst dement werden muss.

Ja, das wäre natürlich schön, wenn man den Mut hätte, sein Leben anders zu gestalten. Aber noch mal zurück zur Validation: Sie haben gesagt, dass ein Beharren auf Fakten oder das Ablenken mit Sätzen wie „Jetzt gibt’s einen guten Kaffee“ nicht hilfreich sei – wie sollte man stattdessen reagieren?

Ein Beispiel: Menschen am Beginn einer demenziellen Veränderung behaupten oft, sie hätten sich bereits gewaschen, obwohl das nicht stimmt. Dem Prinzip „Man muss doch sauber sein!“ zu entsprechen ist oft nicht mehr ihr Bedürfnis. Deshalb muss man das veränderte Verhalten am besten mit einem interdisziplinären Team beobachten und herausfinden, welche Gründe es dafür gibt. Vielleicht liegt hier ein Trauma vor – negative Sexualität oder sogar Vergewaltigung?

Anfangs sagen desorientierte Menschen häufig einfach: „Ich habe mich schon gewaschen.“ In der zweiten Phase der demenziellen Veränderung zeigen sich Traumata schon offener mit dem Hochziehen der Hose und „Lass mich in Ruhe“. In Phase drei, in der die Sprache immer mehr verlorengeht, mit dem Zusammenpressen der Beine, Schreien… Meine Erfahrung ist: Je fortgeschrittener die Veränderung ist, desto ängstlicher werden die Menschen, weil sie nicht mehr verstehen, warum jemand ihnen die Hose runterzieht.

Wie könnte man da Validation einsetzen?

Validation würde bedeuten, Vertrauen aufzubauen und die Angst ernst zu nehmen, statt sie kleinzureden, davon abzulenken, das angebliche Fehlverhalten zu tadeln oder ruhigstellende Medikamente zu verabreichen. Man müsste viel mehr singen und summen in der Pflege. Vor allem biografische Musik kann Angst verringern, aber auch wiegende Bewegungen, wie man sie als Baby kennengelernt hat.

Leider fallen auch oft Sätze, die klingen wie Täter bei einer Vergewaltigung: „Ich tu dir nichts, wir haben’s gleich geschafft.“ Besser sollte man Schlüsselwörter wiederholen, die die Person sagt, so dass sie sich verstanden fühlt. Oder fragen: „So schlimm?“ So erkennt man ihre Not an. Vielleicht schreit die Frau zum ersten Mal seit Jahrzehnten. Man nimmt an, dass jede dritte Frau in österreichischen Pflegeheimen im früheren Leben negative sexuelle Erfahrungen in der Ehe oder im Familienverband gemacht hat oder sogar vergewaltigt wurde.

Furchtbar!

Und das ist nie therapiert worden. All das zeigt sich im hohen Alter – und wenn die nachfolgenden Generationen keine Therapie machen, auch bei denen. Aber man muss den Ballast loswerden, damit man in Frieden sterben kann.

Die Demenz zwingt also zur Aufarbeitung, ob man will oder nicht.

Weil wir ein Körpergedächtnis haben und auf Reize reagieren, zum Beispiel auf Berührungen.

Und wenn wir auf die Reize reagieren und die Emotionen endlich offen rauskommen, verteilt die Pflege womöglich Tabletten dagegen, weil sie keine Zeit hat.

Die Zeitfrage ist mir durchaus bewusst. Ich habe selbst neun Jahre in der Pflege gearbeitet, wenn auch noch zu anderen Bedingungen. Aber Validation ist eine Haltung. Wenn man mathematische Spielchen betreibt, wie viele Kinder die Frau hat, dauert das genauso lange, wie ihr Gefühl anzusprechen – „Sie machen sich Sorgen um Ihre Kinder?“ – oder zu singen und ihr damit zu helfen, ihre Emotionen zu verarbeiten. Aber es ist klar, dass die Dame nach 15 Minuten wieder klingelt, denn die Kinder sind ihr Lebensthema.

Wenn sie trotzdem wieder klingelt – was ist dann das Ziel der Validation?

Es gibt bei der Validation keinen „Erfolg“ im klassischen Sinn. Aber das Zulassen und Akzeptieren, dass sich jemand so oder anders fühlt, führt in der Regel zur Stressreduktion bei allen Beteiligten und mittelfristig auch zu einer Reduktion von Medikamenten. Das ist meine Erfahrung. Wissenschaftlich ist das aber bisher leider nicht analysiert worden.

Haben Sie noch ein Beispiel für die Validationstechnik?

Eine über 90-Jährige rührte plötzlich ihr Essen nicht mehr an. Das Pflegeteam überlegte, ob die Zahnprothese das Problem sei oder das Essen selbst. Wenn es Tortellini oder chinesische Nudeln gibt und das nicht vertraut ist, essen manche Leute nichts mehr. All das war aber nicht das Problem. Schließlich brachte die biografische Arbeit das Team auf die Spur: Die alte Frau hatte im Krieg ihre Kinder vor dem Verhungern bewahren müssen. Als das Team es zuließ, dass die Frau im Speisesaal zuerst beim Essen zusah und man ihr dann sagte: „Alle sind satt. Alle haben genug bekommen!“, begann die Frau wieder zu essen. Sie musste sich nicht mehr sorgen, dass jemand verhungert.

Das ist eine schöne Wendung. Gibt es also auch Menschen, die sich zufrieden fühlen in ihrer Demenzsituation?

Etwas Ähnliches hat mich meine Co-Autorin beim Schreiben meines Buches auch gefragt: „Gibt es nicht auch lustige Geschichten?“, wollte sie wissen. Da musste ich leider sagen: Die gibt es nicht. Aber mir erzählen manchmal Pflegerinnen, dass es Menschen gibt, die trotz Demenz zufrieden scheinen.

Da frage ich immer: Ist die Frau gläubig? Die Menschen, die ihr ganzes Leben in die Hände Gottes gelegt haben, nehmen auch im Alter ihre Verluste anders an. Der liebe Gott wird schon gewusst haben, warum es so passiert. Es wäre sicher spannend zu erforschen, wie sich das verändert, wenn die Leute jetzt säkularer sind.

Die Emotionen, die demenziell Veränderte äußern, sind also tendenziell leidvoll. Was bedeutet das für den Umgang mit eigenen Bedürfnissen? Darf man auch mal sagen: „Ich finde furchtbar, was Sie erzählen, aber gerade fehlt mir die Zeit. Lassen Sie uns morgen darüber sprechen“?

Nein, denn diese Art zu kommunizieren erfordert Einsicht. Dazu ist man bei Demenz nicht mehr in der Lage. Deshalb müssen wir als Außenstehende lernen, damit umzugehen. Um empathisch zu reagieren, muss man sich zentrieren. Das heißt: Ich muss meine Gefühle draußen lassen und die Situation von oben betrachten, statt involviert zu sein. Sonst fühle ich mich persönlich angegriffen, wenn jemand patzig zu mir ist. Dann ist mein Energietank schnell leer.

Klingt trotzdem extrem anstrengend für Angehörige, nur in Pausen eigene Gefühle rauszulassen.

Betroffene werden über die Monate tendenziell ruhiger, wenn ihre Gefühle ernst genommen werden. Trotzdem: Diejenigen, die Angehörige pflegen, sind meistens die Nächsten, die krank werden. Wenn man drei-, viermal in der Nacht aufstehen muss, weil die Mutter ruft, ist das Horror. Angehörige bräuchten viel mehr Unterstützung.

Was kann man tun, wenn demenziell Veränderte sogar aggressiv werden oder behaupten, man habe sie bestohlen?

Das Gefühl, bestohlen worden zu sein, ist ganz typisch bei einer demenziellen Veränderung. Betroffene merken, dass sie ihren früheren Status, ihre Selbständigkeit und ihre Persönlichkeit verlieren, und wehren sich dagegen. Davon höre ich auch immer wieder bei meinen Angehörigenkursen. Eine Frau erzählte, ihre Schwiegermutter würde ihr unterstellen, regelmäßig die Unterwäsche der Schwiegermutter zu stehlen und anzuziehen. Die Schwiegertochter war 50. Sie war entsetzt und empört, bis ich ihr erklärt habe, wofür diese Anklage steht: In den Augen der Schwiegermutter hatte sie ihr den Sohn weggenommen. Die Mutter war nicht mehr die Frau Nummer eins.

Was kann man dann tun?

Auf keinen Fall in die Konfrontation gehen. Das kostet nur Energie, denn die Schwiegermutter ist nicht mehr in der Lage zu verstehen, dass nicht stimmt, was sie sagt. Oft hilft es schon, wenn man weiß, was hinter der Anklage steht. Man sieht sie nun als Ausdruck der Veränderung, nicht als persönlichen Angriff. Das hilft, geduldiger damit umzugehen.

Validation erfordert also viel Empathie, aber auch biografisches Wissen über die einzelne Person sowie die allgemeinen Lebensumstände früherer Generationen. Wie ist das leistbar, wenn in Zukunft viele Ältere einen Migrationshintergrund haben oder – wie schon jetzt – viele Pflegekräfte aus dem Ausland kommen?

Das wird eine der größten Herausforderungen. Und was noch dazukommt: Durch die demenzielle Veränderung sprechen die Leute irgendwann nur noch ihre Muttersprache. Man bräuchte eigentlich Personal, das viele Sprachen spricht, um validieren zu können. Wenn man das nicht hat, sollten die Pflegekräfte Kinderlieder in der eigenen Muttersprache singen. Entscheidend ist, dass die Emotion rüberkommt.

Demenz

Unter dem Sammelbegriff Demenz versteht man hirn­organische Veränderungen, die die geistige Leistungsfähigkeit schwinden lassen: Schlüssel werden verlegt, eigene Kinder nicht mehr erkannt. Auch Persönlichkeitsveränderungen, Halluzinationen und Schlaganfälle können zum Krankheitsbild gehören. Wie viele Menschen von Demenz betroffen sind, ist unklar. Nicht bei allen Erkrankten wird sie diagnostiziert. Die Weltgesundheitsorganisation geht in ihrem Global Status Report 2021 von 1,8 Millionen Betroffenen in Deutschland aus, Tendenz steigend.

Hildegard Nachum war neun Jahre in der Altenpflege tätig. Seit 2011 gibt sie als zertifizierte Validationsmasterin Kurse für Pflegepersonal. Ihr Buch Die Weisheit der Demenz. Weg­weiser zum würdevollen Umgang mit desorientierten Menschen ­erschien 2022 bei Kneipp

Quellen

Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: www.wegweiser-demenz.de, Berlin 2022

Deutsche Alzheimer Gesellschaft e.V.: www.deutsche-alzheimer.de/demenz-wissen, Berlin 2022

Hildegard Nachum: Die Weisheit der Demenz. Wegweiser zum würdevollen Umgang mit desorientierten Menschen. Kneipp, Wien 2022

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 4/2023: Schüchtern glücklich sein