Stimmengewirr, Kindergeschrei, Löffelklappern. Das Leben tobt in dem Café in Berlin-Charlottenburg, in dem das Interview mit Anne Rabe stattfindet. Das Lokal sei eine Institution, sagt die Autorin gleich beim Reinkommen. Keines ihrer Stammlokale, aber sie treffe sich hier gern beruflich. Die 38-Jährige wirkt souverän, agiert in aller Ruhe und doch gedanklich blitzschnell. In Bezug auf Inhalte spricht sie engagiert, im Kontakt bleibt sie eher reserviert. Man merkt ihr an, dass sie in den letzten Jahren zur…
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sie engagiert, im Kontakt bleibt sie eher reserviert. Man merkt ihr an, dass sie in den letzten Jahren zur wichtigen politischen Stimme geworden ist, regelmäßig auf Podien zu den Entwicklungen in den ostdeutschen Bundesländern spricht. Rabe setzt sich offensiv für Demokratisierung und gegen rechtsextreme Tendenzen ein. Sie macht sich dadurch angreifbar, bewirkt aber auch viel.
Ihr Roman Die Möglichkeit von Glück holt viele Menschen ab, war für den Deutschen Buchpreis nominiert. Die Autorin erzählt dort von autoritären Erziehungsmethoden und Misshandlung in einer ostdeutschen Familie in den 1990er Jahren. Die Geschichte ist autofiktional, es gibt mehrere Erzählstränge, einer zeichnet die Lebens- und Gesinnungsgeschichte des geliebten Großvaters nach – Protagonistin Stine sichtet dafür auch Stasi-Unterlagen.
„Natürlich bin nicht ich das, die erzählt“, sagt Rabe und lächelt. Sie habe sich in die Figur Ada hineingeschrieben. „Ich verstehe, dass die Leute fragen, wie viel davon meine eigene Geschichte ist. Ich wäre auch neugierig. Aber hier geht es um eine typische, aber fiktionalisierte Spurensuche.“ Trotzdem sei es ihr wichtig gewesen, den Prozess nahbar zu schildern. Anne Rabe kann also beide Perspektiven auf den Osten bieten: die sachliche und die subjektive – auch im Gespräch wechselt sie immer wieder gekonnt zwischen beiden Ebenen.
Frau Rabe, Sie schreiben seit langem erfolgreich für Theater und Film. Um die Dynamik einer Familie in der Nachwendezeit darzustellen, haben Sie sich aber zum ersten Mal an eine Ich-Erzählung in Romanform gewagt. Wie kam es dazu?
Am Anfang stand eine politische Motivation. 2019 drohte die AfD in einigen ostdeutschen Bundesländern erstmals eine Wahl zu gewinnen, vor allem weil Menschen sie wählten, die so alt sind wie ich. Damals habe ich mich gefragt, warum mir das so vertraut vorkommt, warum sich so wenig verändert. Ich habe mir Gedanken darüber gemacht, wie ich aufgewachsen bin. Und angefangen, mit Freunden darüber zu sprechen, was uns geprägt hat. Im Austausch stellte sich heraus, dass viele Gleichaltrige, also diejenigen, die kurz vor der Wende geboren wurden, Gewalterfahrungen gemacht haben – in den Familien, in Institutionen, auf der Straße. In einem Essay, das dem Buch vorausging, schreibe ich: „Die Gewalt war schon, bevor ich dazukam.“ So empfinden es viele.
Sie haben dann kein politisches Sachbuch geschrieben, sondern einen psychologisch vielschichtigen Roman…
Es sprach einiges gegen ein Sachbuch. Es gibt beispielsweise nur wenig belastbare Zahlen zu häuslicher Gewalt in der DDR. Da es keine freie Forschung gab, wurde das nicht erhoben. Die DDR hat sich ja als besonders kinder- und frauenfreundlich begriffen, da war Gewalt natürlich tabuisiert. Als nach der Wende erste Frauenhäuser gegründet wurden, waren die aber sofort voll. Außerdem interessierte mich der literarische Ansatz deshalb, weil er auch für den Leser und die Leserin einen emotionalen Zugang ermöglicht. Es ging mir ähnlich wie im Theater darum, eine stellvertretende Erfahrung zu ermöglichen. Die Heldinnen auf der Bühne durchleben eine Geschichte, die Zuschauer können sie nachempfinden, ohne die Erfahrung direkt machen zu müssen. So wollte ich es mit der Spurensuche und der Selbstreflexion auch anlegen.
Selbstreflexion sichtbar zu machen ist nicht einfach. Wie sind Sie vorgegangen?
Es hat lange gedauert, eine passende Form zu finden. Im Text spielen ja Erinnerungen eine zentrale Rolle. Ich wollte eine literarische Entsprechung für das finden, was sich abspielt, wenn wir uns erinnern. Das ist ja ein fragwürdiger Prozess. Deshalb wollte ich nicht linear erzählen, habe verschiedene Perspektiven verfolgt, bin zwischen Orten und Zeiten gesprungen. Denn ich wollte das Uneindeutige erfahrbar machen, das in der Aufarbeitung von persönlicher und politischer Geschichte mitschwingt.
Inwiefern misstrauen Sie dem Erinnern?
Na ja, eigentlich kann niemand so richtig sagen, wie das funktioniert, was wir Erinnerung nennen. Was merkt man sich? Was hinterlässt einen Eindruck? Es gibt auch in der Tierwelt Erfahrungen, die abgespeichert werden, aber wahrscheinlich gibt es kein Tier, das Chronologien oder Bezüge herstellt. Wir tun das laufend und vergessen, was für ein fragiler Vorgang das ist. Und dass man über die Erzählung der Vergangenheit auch das eigene Ich konstruiert. Auch die Erinnerung an historische Momente wie den Mauerfall ist nicht objektiv, verallgemeinerbar oder austauschbar. Das sind nicht die kollektiv geteilten Fernsehbilder vom Oktober 1989. Was man aus dieser Phase erinnert, das ist sehr individuell und entzieht sich zunächst unserer Kontrolle. Wir können erst einmal nicht beeinflussen, was für Bilder und Emotionen wir mit bestimmten Ereignissen verbinden.
Ihr Roman beginnt dann auch mit dem Satz: „Ich versuche, mich zu erinnern.“
Nein, er beginnt mit dem Satz: „Du versuchst, dich zu erinnern.“ Das ist mir wichtig. Denn die Erzählerin Stine spricht aus zwei Perspektiven. Einmal aus der Gegenwart als Ich-Erzählerin, hier recherchiert sie ihre Familiengeschichte, erlebt Dinge mit ihren Kindern, reflektiert heutige Ängste, trifft als Erwachsene auf ihre Mutter. Darüber hinaus gibt es die Du-Form, in der Stine versucht, sich zur Kindheit vorzutasten, zu den gemeinsamen Spaziergängen mit dem Großvater, der fest an die DDR glaubte, zur Härte und Ablehnung der Mutter, zur Gewalt. Die Trennung zwischen der Du-Erinnerungsstimme und der erwachsenen Ich-Stimme finde ich ergiebig. Wenn eine vergangene und eine heutige Sichtweise aufeinandertreffen, entsteht ein Selbstgespräch. Es gibt die Möglichkeit zur inneren Auseinandersetzung im Text.
Die Ich-Erzählerin gerät immer tiefer in die Erinnerungen hinein, Entsetzen und Dringlichkeit werden größer. Haben Sie das konstruiert oder war das Ihr eigenes Erleben beim Schreiben?
Beides. Wir können Erinnerungen im Alltag ja leicht ausblenden, sie sind nicht ständig präsent. Aber es gibt Situationen, in denen sich Erkenntnisse zuspitzen, Erinnerungen vernetzen und man die Beschäftigung mit einem alten Thema nicht mehr abstellen kann. Zum Beispiel luzide Momente in schlaflosen Nächten, in denen man keine Kontrolle mehr darüber hat, wohin Gedanken und Gefühle steuern. Eine solche Verdichtung der Selbstgespräche wollte ich hinbekommen. Darüber hinaus kam ich beim Schreiben selbst in einen ähnlich intensiven Prozess, in dem ich hochsensibel war und alles zu mir gesprochen hat, überall Assoziationen auftauchten und ich diese miteinander und auch mit den Rechercheergebnissen verbinden konnte wie vorher nicht. Ich habe mich dem Prozess ausgeliefert.
Was bedeutet das konkret für Sie?
Ich habe von Anfang bis Ende durchgeschrieben. Wenn ich zwischendurch steckengeblieben bin, habe ich gewartet, bis ich wusste, wie es weitergeht. Ich hatte auch lange keine Ahnung, wie der Roman endet, fragte mich oft: Wo führt das alles hin? Wie der Schluss aussehen könnte, ist mir dann tatsächlich in einer schlaflosen Nacht eingefallen. Ich war mit meinem Sohn unterwegs, er ist Sportler, wir waren bei irgendeinem Turnier, ich lag wach und plötzlich wusste ich, wie ich es mache.
Aber zwischendurch war ich im Schreibprozess unsicher. Als ich die Hälfte fertig hatte, gab ich den Text einer Freundin, die auch schreibt, bat sie, mir zu sagen, ob das Literatur ist oder bloß ein seltsames Tagebuch. Sie sagte: „Spinnst du? Natürlich ist das Literatur.“ Also machte ich weiter. Aber so selbstverständlich war das nicht. Und ich glaube, das ist auch richtig so: Es geht hier um eine Emanzipationsgeschichte, so läuft der Prozess der Protagonistin – und auch der eigene Schreibprozess muss in diese Richtung gehen.
Die Ich-Erzählerin beschreibt, stellt Fragen, fällt keine Urteile. Wie ist es Ihnen gelungen, so offen zu bleiben?
Man darf sich nicht selbst auf den Leim gehen. Ich habe versucht, selbstkritisch zu bleiben und zu prüfen: Ist das jetzt gut? Ist das zu platt? Welche Position haben die anderen? Die Erzählerin beleuchtet so auch die Gewalt ihrer Familie. Sie überwindet sich, hinterfragt die eigenen Erinnerungen, die ja auch Glaubenssätze werden können. Dadurch macht sie die Auseinandersetzung auch anderen zugänglich.
In Ihrem Essay Kinderland fordern Sie, sich mit der Gewaltgeschichte im Osten auseinanderzusetzen, eine Sprache dafür zu finden. Kann Ihr Buch eine Hilfe sein?
Im Augenblick kann ich leider nicht sagen, wie das gesamtgesellschaftlich gelingt. Ich habe leider keinen Zauberstab. Und ich weiß auch nicht, ob die Reflexion Einzelner tatsächlich autoritäre Strukturen aufbricht – oder ob die politische Auseinandersetzung nicht doch kraftvoller ist. Aber natürlich kann es ein Anfang sein, wenn Menschen einen Zugang zu einer Figur finden, sich in der Erzählung wiederfinden.
Was bekommen Sie dazu für Resonanz?
Immer wieder kommen Menschen und sagen mir, dass ich da ihre Geschichte erzähle. Dass sie auch die Misshandlungen kennen. Es gibt in dem Buch eine Szene, in der die Mutter die Protagonistin und ihren Bruder in eine viel zu heiße Badewanne zwingt und dort fast verbrüht. Einige sagten: Ich habe genau das erlebt. Andere haben das Buch ihren Eltern geschenkt. Und Eltern aus der Generation der jetzt 60-Jährigen haben es ihren Kindern gegeben.
Es gab da eine interessante Entwicklung: Der meiste Widerspruch kam am Anfang von der Elterngeneration im Osten, man ging auf Distanz, sagte entweder: „Das war ganz anders bei uns“, oder: „Diese Familie ist ein Einzelfall.“ Aber irgendwann kippte die Haltung, immer mehr Leute aus der Elterngeneration sagten öffentlich auf Lesungen: „Ich habe durch dieses Buch etwas über meine Kinder verstanden.“ Das ist eine ziemlich vorsichtige Formulierung, aber ein Zeichen für einen Reflexionsprozess. Obwohl alle wissen, dass es in dem Buch um Gewalt, autoritäre Haltungen und Verstrickungen mit der DDR geht, trauen sich diese Menschen zu sagen: „Ja, wir erkennen an. Es gibt da etwas.“ Nicht genauso wie im Buch, aber es ist etwas dran.
Und was, glauben Sie, lernen Eltern über die Generation der Kinder, wenn sie das Buch gelesen haben?
Sie verstehen etwas von der Einsamkeit der Kindergeneration, die in den 80er Jahren geboren wurde. Es gab in der Zeit eine ausgeprägte Vernachlässigung. Und eine riesige Distanz zwischen den Erfahrungswelten der Eltern und der Kinder. Die Erzählung über den Osten wurde vom Leid der Elterngeneration dominiert. Die Bedeutung von Jobverlust, Wohlstandsverlust, Verlust des politischen Bezugssystems kennen wir heute alle. Aber man hat lange kaum darüber gesprochen, was in der jüngeren Generation passiert ist. Man hat sich einfach eingeredet, dass wir von all dem gar nicht betroffen seien. Dass uns weder die Verlusterfahrungen der Eltern noch die Prägung durch die DDR überhaupt etwas angehe. Doch das ist sehr kurzsichtig!
Es gibt diese psychologische Kurzsichtigkeit häufig. Die Wirkung von Werten, Traumata oder Schuld der Eltern oder Großeltern auf die nächste Generation wird unterschätzt.
Ich denke, es ist auch das Ergebnis einer praktischen Überforderung, die in der Zeit des Umbruchs herrschte. Man hat sich gewünscht, dass die Kinder frei von diesen Problemen sein sollen. Aber natürlich laufen autoritäre Erziehungsmuster weiter. Wenn diese ältere Generation jetzt nicht mehr ständig sagt: „Das war damals eben normal“, sondern eine Ahnung davon bekommt, wie schädlich es war, Kinder zu schlagen oder zu vernachlässigen, dann ist das sehr viel.
Immer wieder zeigt sich in Studien, dass autoritäre Einstellungen in Ostdeutschland weit verbreitet sind. Würde es helfen, wenn man verstünde, wie viel Schaden autoritäre Erziehung anrichtet?
Es geht um mehr. Um die eigene Prägung. Zwar weiß man theoretisch, dass uns bestimmte Umfelder geformt haben, ein Staat, eine Nachbarschaft, die Erziehung. Aber es ist schwer, sich bewusstzumachen, wie stark die Gewaltatmosphäre und das Glaubenssystem wirken. Es gab die Allgegenwart der Diktatur. Deshalb ist es notwendig, sich aktiv aus diesen Mustern und dieser Weltsicht herauszuarbeiten. Viele haben diesen Prozess nicht begonnen, halten das für unwichtig. Nicht aus böser Absicht – es scheint einfach alles so selbstverständlich. Wenn dann die nächste Generation selbst Kinder bekommt und sagt: „Wir machen es nicht so wie unsere Eltern“, kann es eine Chance zum Dialog geben, einen Abgleich im Gespräch in den Familien, den ich für wertvoll halte.
Die Protagonistin Stine tut das. Sie setzt sich mit ihrer Mutter, mit dem geliebten Großvater auseinander: Was bringt es, so genau zu gucken?
Wenn man wissen will, wer man ist, muss man wissen, wo man herkommt, um werden zu können, wer man sein will. Für mich geht es um Emanzipation und Kontrolle. Ich will selbst die Entscheidungsgewalt bekommen, will nicht automatisch auf ein bestimmtes Verhalten festgelegt sein. Wenn man sich bewusstmacht, was einen geprägt hat, kann man sich eher aussuchen, wie man sich verhält. Um diese Möglichkeit geht es.
Nicht alle sind gesprächsbereit. Die Mutter von Stine spricht dem Erleben ihrer Tochter jede Berechtigung ab. Sie würde sich alles „nur einbilden“. Diese Abwehr und Vertuschung in Bezug auf körperliche und seelische Gewalt gibt es häufig. In Psychotherapien geht es unter anderem darum zu validieren: Ja, so ist es gewesen. Ja, deine Wahrnehmung ist richtig.
Gewalt soll Menschen zum Schweigen bringen. Das gilt auch, wenn man auf Kinder guckt: Sie sind oft chaotisch, machen Unruhe und viele Dinge falsch. Man kann versuchen, sie mit Gewalt zu bändigen, ihnen ihre Lebendigkeit zu nehmen, diese sogar zu töten. Ich finde es wichtig, den Prozess umzudrehen, das zu benennen, dem nachzuspüren. Man holt sich sein Leben wieder – und gibt das Thema den Tätern zurück. Es ist eine Art, sich zur Wehr zu setzen.
Wollen Sie mit dem Schreiben etwas aufdecken, was vorher unsichtbar war?
Vielleicht geht es darum, eine Verbindung zu schaffen. Erinnern Sie sich noch daran, wie Sie als Jugendliche Musik gehört haben? Dass man sich nie zuvor so verstanden gefühlt hat und damit zum Teil auch die Einsamkeit überwinden konnte, die das Erwachsenwerden mit sich bringt? Es würde mich freuen, wenn mein Buch auf manche Leser so eine Wirkung hat, dass sie sich verstanden fühlen, dass sie wissen, dass sie nicht allein damit sind.
So wird auch das Schweigen durchbrochen.
Das stimmt. Und es gibt viele Familien mit Schweigegeschichten, im Osten und Westen. Die Generation der Kriegskinder und -enkel im Westen hat sich auch lange mit dem Schweigen der Nazitäter, mit massiven Gewalterfahrungen beschäftigt. Doch obwohl ich Parallelen sehe, scheint mir die Schweigelandschaft im Osten komplexer: Dort gibt es die nationalsozialistische Vergangenheit, die in der DDR anders als in der BRD überhaupt nicht aufgearbeitet ist. Und zusätzlich die zweite Diktatur in den Jahren bis 1989. Viele brisante historische Ereignisse der DDR-Geschichte sind bis heute komplett ausgeblendet.
Ich frage oft in die Runde auf Lesungen: „Erinnern Sie sich an den 17. Juni?“ In Brandenburg in kleinen Orten habe ich einige Male gemerkt, dass da richtige Traumata liegen. Die Leute würden gern sprechen, können aber nicht. Die Jüngeren dagegen haben zu dem Datum gar keine Verbindung mehr. Das Schweigen liegt manchmal wie Blei im Raum. Es kann sein, dass ich eine Frage stelle, die mit „Erinnern Sie sich…“ beginnt, und die Leute sagen einfach nur: „Ja.“ Mehr nicht. Man kann sich nicht öffnen. Auf der anderen Seite werden gesellschaftliche Diskurse im Osten oft mit einer großen Unerbittlichkeit geführt. Es geht nicht, dass zwei Positionen nebeneinanderstehen. Es gibt keine zwei Meinungen.
Wie erklären Sie sich das?
Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass im Osten jeder Konflikt, Dissens oder Widerspruch als Gefahr wahrgenommen wird. Das ist vielen Menschen gar nicht bewusst, sie scheuen im Grunde Konflikte, empfinden sie als existenzbedrohend. Ein Beispiel, wieder aus Brandenburg: Ein Mann hatte schon vor der Lesung angekündigt, dass er mir heftig widersprechen werde, blieb dann aber ruhig. Nach der Veranstaltung sagt er dann: „So schlimm fand ich es gar nicht.“ Ich fragte: „Was haben Sie denn erwartet?“ Er: „Ach, da kommen so Westdeutsche und sagen mir, wie mein Leben ist und was ich tun soll.“ Und ich: „Ja und, was machen Sie dann? Sie können doch was dagegen sagen, wenn Ihnen das nicht gefällt.“ Und er: „Ach, das verstehen die doch eh nicht.“ Und ich wieder: „Man kann es doch versuchen. Und wenn es nicht geht, dann geht man nach Hause und sagt: Heute habe ich einen Blödmann getroffen. Es passiert doch sonst nichts.“ Und er guckte mich verdattert an und sagte: „Stimmt, da haben Sie recht.“ Dass man ungleicher Meinung sein kann, dass man etwas Konflikthaftes ansprechen darf, ist gar nicht präsent. Meinungsverschiedenheiten sind entweder Kampf oder bleiben ganz aus.
Woher kommt das? Fehlt die Erlaubnis, sich abzugrenzen? Oder individuell zu agieren, herauszutreten und zu sagen: „Ich sehe das anders“?
Wir leben heute in einer Gesellschaft, in der Beziehung, Psychologie und Interaktion dauerpräsent sind, überall liest man von Ängsten, Traumata, Gesprächsführung. Vor zehn oder zwanzig Jahren in Ostdeutschland war all das keinesfalls gängig. Ich will die Leute nicht aus der Verantwortung entlassen, sie hätten sich längst auf den Weg machen können, aber ich glaube, dass Ihnen zum Teil der Instrumentenkasten fehlt.
Und noch eine Beobachtung: In den Familien im Osten geht es immer noch stark um Harmonie und gegenseitige Bestätigung. Unter Jugendlichen gibt es eine ausgeprägte Ostalgie, sie schwenken beim Fußball DDR-Fahnen, als wollten sie ihren Eltern zeigen: „Wir gehören noch zu euch, wir finden Anknüpfungspunkte, die die Westkinder nicht haben.“ Es geht viel um Rückversicherung, wenig um Loslassen. Ich frage mich oft, wann diese Jugendlichen endlich aus der Geschichte entlassen werden. Und lese es als Hinweis, dass man große Angst hat, dass Familien auseinanderfallen, wenn man sich eigenständig bewegt, nachfragt, abweicht. Man scheint einen grundsätzlichen Bruch zu fürchten.
Auch in der Familie, über die Sie schreiben, ist der Bruch nicht zu kitten.
Es gibt daran manchmal Kritik. Einige Leserinnen wünschen sich, dass Stine doch mit der Mutter sprechen könnte, sich erklären könnte. Aber die Mutter in dieser Geschichte gibt ihre Täterschaft nicht auf, sie geht auf kein Gespräch ein, nutzt ihre Möglichkeiten nicht, sich der Vergangenheit zu stellen und sich zu entwickeln. Die Sprachlosigkeit bleibt bestehen. Ich glaube, dass es die Möglichkeit der Versöhnung gibt. Aber nicht in dieser Geschichte.
Versöhnlich scheint mir die Art zu sein, wie Sie Ihre Lesungen gestalten. Sie geben dem Publikum Raum, fördern das Gespräch. Ist das ein Rahmen, in dem sich etwas verändern kann?
Hoffentlich. Manchmal fürchte ich aber auch, dass die Veranstaltung auseinanderfliegt. Häufig frage ich: „Wer weiß, was Jugendwerkhöfe sind?“ Es wissen immer nur wenige, egal ob im Osten oder im Westen, dass es sich um Erziehungsheime handelte, die wie Gefängnisse organisiert waren, in denen Misshandlung legitim war. Einmal saß im Publikum ein älterer Mann, der davon nichts hören wollte und sagte: „So war es nicht, in der DDR wurde man zu Sozialismus und Frieden erzogen.“ Ein anderer Mann stand auf, total emotional, sagte, das sei ein Verbrechen gewesen, und erklärte: „Mein Bruder war in Torgau.“ Das war ein geschlossener Jugendwerkhof, heute eine Gedenkstätte. Darauf entgegnete der andere: „Na, wenn er in Torgau war, dann war er auch kriminell.“ Das Ganze drohte zu eskalieren.
Schließlich mischte sich ein unbedarfter dritter Zuhörer ein und fragte: „Was ist denn aus Ihrem Bruder geworden?“ Und der Mann sagte vor allen Leuten: „Er hat sich umgebracht.“ Das war ein Moment, wo ich dachte: Was machen wir jetzt? Ich konnte es nicht auflösen. Es blieb so stehen. Aber es war gut, dass der Mann den Raum hatte, darüber zu erzählen. Und alle zugehört haben.
Anne Rabe, geboren 1986 in Wismar, studierte Germanistik und Theaterwissenschaft, später Szenisches Schreiben an der Universität der Künste in Berlin. Sie schrieb zahlreiche Bühnenstücke, etwa Achtzehn Einhundertneun – Lichtenhagen, für das sie den Kleist-Förderpreis für junge Dramatikerinnen bekam. Sie verfasst außerdem Drehbücher, etwa für die Serie Warten auf’n Bus, sowie Essays. Die Möglichkeit von Glück, ihr erster Roman, war 2023 auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Anne Rabe lebt mit ihrem Mann in Berlin und hat zwei Kinder.
Psychologie und Literatur
In unserer Serie sprachen zuletzt:
Dana Grigorcea über das, was Liebespartner attraktiv macht (Heft 9/2024)
Eva Menasse über die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit (Heft 5/2024)
Steffen Kopetzky über Kunst und Bodenhaftung (Heft 1/2024)
Saša Stanišić über Erzählen als Mittel gegen die Ohnmacht (Heft 9/2023)
Charles Lewinsky über das Grundbedürfnis, kein Niemand zu sein (Heft 5/2023)
Milena Michiko Flaar über das beredte Innenleben stiller Menschen (Heft 1/2023)
…und viele mehr. Sie finden diese Interviews auf unserer Website (PH+): psychologie-heute.de