Dass ich schon am ersten Tag weinen würde, habe ich nicht erwartet. An einem warmen Sommerabend Ende Juli 2022 sitze ich zusammen mit sechzehn anderen Menschen im ausgebauten Speicher eines niederländischen Gehöfts auf runden Kissen im Kreis. In unserer Mitte steht ein kleiner Altar, darauf frisch gepflückte Blumen, brennende Kerzen und Räucherwerk.
Keine drei Stunden sind seit meiner Ankunft vergangen. Ich bin mit dem Zug von Berlin aus nach Aachen und von dort kurz bis hinter die holländische Grenze…
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vergangen. Ich bin mit dem Zug von Berlin aus nach Aachen und von dort kurz bis hinter die holländische Grenze gereist. Wir sitzen zusammen und sprechen über unsere Intention für die vor uns liegenden Tage. Da kullert besagte erste Träne über mein Gesicht. Sie ist eine Art Omen für das, was mich erwartet. In zwei Tagen werden wir uns auf eine berauschende psychedelische Reise mit halluzinogenen Pilzen begeben. Sobald der Rausch beginnt, werden dieser ersten Träne viele weitere folgen.
Seit 2019 recherchiere ich als freie Journalistin immer wieder zur Debatte um Psychedelika und zu ihrer potenziellen Anwendung in der Medizin. Meine Neugier geweckt hatte damals ein vielbeachtetes Buch: How To Change Your Mind, geschrieben von Michael Pollan, einem US-amerikanischen Sachbuchautor. Er beschreibt darin das Potenzial verschiedener psychedelischer Substanzen für die Linderung psychischer Erkrankungen.
Drei Jahre später will ich selbst herausfinden, wie es sich anfühlt, einen begleiteten Trip zu erleben. Der Grund dafür, dass wir hierzu in die Niederlande gekommen sind – angereist aus den Arabischen Emiraten, den USA, Großbritannien, Österreich und Deutschland –, ist die dortige Drogenpolitik, die Gesetzgebung birgt ein Schlupfloch: Anders als die oberirdischen Fruchtkörper fällt das knollig verdickte Myzelgeflecht psilocybinhaltiger Pilze hier nicht unter das Betäubungsmittelgesetz. Es wird legal in sogenannten Headshops verkauft und darf – nicht zu therapeutischen Zwecken wohlgemerkt, aber im Freizeitgebrauch – verabreicht werden.
Zugang ins Unterbewusstsein
Die Teilnehmenden im Kreis unter der Dachschräge haben also einen legalen magic mushroom retreat gebucht. Fünf Tage werden wir auf dem Hof verbringen und unter Einfluss der sogenannten Trüffel in die Tiefen unserer Seelen schauen. Psilocybin und andere Psychedelika, das legen Forschungsergebnisse nahe, schaffen einen Zugang ins Unterbewusstsein und sollen in der Lage sein, neue Perspektiven auf Erlebtes, Gedachtes oder Verdrängtes zu eröffnen.
Dass solche Retreats in den Niederlanden mittlerweile von einem knappen Dutzend privater Anbieter ausgerichtet werden, liegt unter anderem an mehreren Studien, die zwischen 2011 und 2016 veröffentlich wurden. Gemessen an der Zahl der untersuchten Probandinnen waren sie zwar klein, ihre Ergebnisse aber durchaus beeindruckend.
Seitdem tritt eine wachsende Zahl von Forschenden für eine Neubewertung der aktuell als illegale Drogen eingestuften Substanzen ein und sieht im Einsatz von Psychedelika neue vielversprechende Behandlungsmöglichkeiten und eine potenzielle Erweiterung des Werkzeugkastens in Psychiatrie und Psychotherapie (lesen Sie dazu auch Drogentrips gegen die Schwermut, Heft 6/2022).
Kritikerinnen wiederum blicken skeptisch auf einen möglicherweise ungerechtfertigten Hype, verweisen auf ungeklärte Forschungsfragen und warnen vor den Risiken eines solchen Eingriffs in die Hirnchemie, der bei entsprechend vorbelasteten Personen zum Beispiel Psychosen triggern könne.
Weniger Angst vor dem Tod
2011 veröffentlichte der Psychiatrieprofessor Charles Grob, der am Harbor-UCLA Medical Center forscht, die Ergebnisse einer Pilotstudie, für die er zwölf Patienten mit einer fortgeschrittenen Krebserkrankung, die unter Angstzuständen litten, eine moderate Dosis Psilocybin verabreicht hatte. Dies ist eine auch chemisch herstellbare Substanz, die in Magic Mushrooms enthalten ist und die Pilze – ebenso wie besagte Trüffeln – psychedelisch macht, also einen Rauschzustand auslöst, zu dem beispielsweise auch Halluzinationen gehören.
Das Ergebnis war erstaunlich: Nicht nur schien die Behandlung sicher zu sein, es wurden keine unerwünschten Nebenwirkungen festgestellt. Viel wichtiger aber war: Die mit Psilocybin behandelten Patientinnen hatten nach dem Trip offenbar weniger Angst vor ihrem bevorstehenden Tod. Diese Stimmungsverbesserung hielt zudem noch sechs Monate nach der Behandlung an.
2014 wiederholte ein Forschungsteam unter der Leitung des Schweizer Psychiaters und Psychotherapeuten Peter Gasser das Experiment mit LSD, einem ebenso potenten Psychedelikum wie Psilocybin, das in der Wirkung vergleichbar ist, nur dass der Trip ein paar Stunden länger dauert.Wieder waren es zwölf schwer an Krebs erkrankte Patientinnen, die aufgrund ihrer Diagnose an Angstzuständen litten. Zusätzlich zu Therapiesitzungen verabreichten Gasser und sein Team die vom legendären Schweizer Chemiker Albert Hofmann 1938 entdeckte Substanz LSD. Wieder konnten die Patientinnen nach zwei Substanzsitzungen ihrem bevorstehenden Tod weniger angstbesetzt entgegensehen.
Als mit Roland Griffiths 2016 ein renommierter US-amerikanischer Psychopharmakologe an der Johns Hopkins University in Baltimore das Experiment mit 51 tödlich erkrankten Krebspatientinnen ein drittes Mal wiederholte und mit einer hohen Dosis Psilocybin zu vergleichbaren Ergebnissen kam, war das Interesse der weltweiten Forschungsgemeinschaft am Potenzial der seit Anfang der 70er Jahre verbotenen Substanzen endgültig neu entfacht.
Zumal zeitgleich zu Griffiths eine Gruppe von Forschenden um den Psychopharmakologen Robin Carhart-Harris am Imperial College in London begann, die Wirkung von Psilocybin bei behandlungsresistenter Depression zu untersuchen. Auch bei Carhart-Harris’ Psilocybinstudie zur Wirkung bei Depressionen war die Zahl der Probanden mit zwölf Patienten klein – und damit wenig aussagekräftig, was den Therapieerfolg in der breiten und diversen Bevölkerung betrifft. Doch auch in dieser Studie waren die Depressionssymptome der Patienten sowohl eine Woche nach der Substanzsitzung als auch drei Monate später merklich reduziert.
Höhenflug mit Alalaho
Seitdem ist viel passiert. Inzwischen sind weltweit über 450 klinische Studien zur Erforschung von verschiedenen Psychedelika registriert. Deren Wirkung wird mittlerweile nicht nur bei Depressionen, sondern auch bei Burnout und Suchterkrankungen untersucht, ebenso bei Angst- und Zwangserkrankungen, Essstörungen, bipolaren und Borderlinestörungen, posttraumatischer Belastungsstörung, ADHS, Migräne, Cluster-Kopfschmerzen und Phantomschmerzen, bei Autismus, Alzheimer und in der Palliativmedizin. Außerdem an sogenannten healthy normals, also Menschen, die an keiner diagnostizierten Krankheit leiden. Bei Letzteren geht es häufig darum, die Wirkmechanismen der Substanzen im menschlichen Gehirn zu verstehen.
Die Frauen und Männer, die sich mit mir für den Trüffelretreat in den Niederlanden angemeldet haben, sind zwischen Mitte dreißig und Mitte sechzig und gebildet. Etwas mehr als die Hälfte hat noch keine Erfahrungen mit Psychedelika gemacht. Für drei ist es schon der zweite Retreat beim Veranstalter Alalaho. Alle wollen in diesem Text unerkannt bleiben. Substanzkonsum ist nach wie vor stigmatisiert, auch wenn sich das gesellschaftliche Bild allmählich wandelt.
Am zweiten Tag bekommen wir „Fluganweisungen“ von Stefana Bosse, einer schlanken Frau Anfang dreißig mit lockigem blondem Haar. Sie leitet den Retreat und hat Alalaho gemeinsam mit ihrer Jugendfreundin gegründet. So gut wie möglich entspannen, lautet die Instruktion, besonders dann wenn etwas unangenehm ist oder furchteinflößend wirkt. Tief atmen und beherzt zulassen, was auch immer passiert. Auf die heilsame Wirkung der Substanz vertrauen.
Wer sich zum ersten Mal anmeldete, musste vor der Anreise einen zweistufigen Screeningprozess durchlaufen. Ich hatte einen ausführlichen Fragebogen zu meiner psychischen Gesundheit ausgefüllt und ein halbstündiges Gespräch via Zoom mit einem Mitarbeiter von Alalaho geführt – Sicherheitsmaßnahmen, die es bei illegalen Untergrundzeremonien mit Psychedelika häufig nicht gibt.
Schwere psychische Erkrankungen wie eine Veranlagung zu Psychose und Schizophrenie sind strikte Ausschlusskriterien, weil diese durch die Substanzerfahrung getriggert werden können. Auch suizidal sollte man nicht sein, wie mir der Mitarbeiter im Gespräch erklärt. Davon abgesehen ist Psilocybin in einem kontrollierten Setting nebenwirkungsarm, wie mittlerweile zahlreiche Studien belegen.
MDMA gegen PTBS
Wie sieht es in anderen Ländern aus? Im Sommer 2023 hat Australien als erstes Land der Welt den Pilzwirkstoff Psilocybin zur Therapie von schwer behandelbaren Depressionen zugelassen, ebenso wie MDMA, einen Wirkstoff von Ecstasy, zur Therapie von posttraumatischen Belastungsstörungen. Verabreichen dürfen hier nur Therapeutinnen und Therapeuten.
In den USA steht die Zulassung für MDMA bei der posttraumatischen Belastungsstörung durch die Food and Drug Administration laut Expertenaussagen kurz bevor. Im Sommer 2024 könnte es laut den Antragstellern so weit sein. In der Schweiz kann für Patientinnen mit einem dortigen Wohnsitz schon seit Jahren eine Einzelfallbewilligung für die Behandlung mit Psychedelika eingeholt werden.
Für eine Zulassung durch die Europäische Arzneimittel-Agentur allerdings – wie auch durch das deutsche Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte – braucht es große randomisierte, placebokontrollierte Studien mit hunderten Probanden. Bis es so weit ist, ist eine legale Behandlung mit solchen Psychedelika für Patienten und Patientinnen in Deutschland nicht möglich.
Immerhin: Die Zulassungsbehörden haben das Potenzial von substanzgestützter Psychotherapie verstanden. „Es besteht Bedarf an wirksamen und sicheren neuen Behandlungsmethoden für psychische Störungen“, schreiben einige der verantwortlichen europäischen Begutachterinnen in einem Artikel, der im Februar 2023 in The Lancet dazu erschienen ist.
Psilocybin EPIsoDE
In Deutschland wird darüber hinaus mit finanzieller Unterstützung durch das Bundesforschungsministerium aktuell in einer größeren Studie zur Wirkung von Psilocybin bei behandlungsresistenter Depression geforscht – am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim sowie an der Charité in Berlin. Die Ergebnisse dieser sogenannten EPIsoDE-Studie sollen im Sommer 2024 veröffentlicht werden.
Einer der insgesamt 144 Probanden, die im Zuge dieser Untersuchung Psilocybin verabreicht bekommen haben, ist Andreas Lipinski. Ende November vergangenen Jahres sitzt der 57-Jährige auf einem barocken Polstersofa in der Lobby eines Berliner Hotels. Lipinski ist soeben mit dem Zug aus Hamburg angereist.
Am nächsten Tag soll er auf einem von gleich mehreren Panels zum Thema Psychedelika beim jährlichen Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde, kurz DGPPN, den Anwesenden von seiner Erfahrung berichten. Das Interesse an der deutschen Psilocybinstudie ist groß. Wenn die staatliche Finanzierung dafür gesichert werden kann, soll es im Anschluss eine weitere, umfangreichere Studie geben.
Echte Dosis, aber ein sanfter Einstieg
Lipinski sagt, er leide „eigentlich schon immer“ an Dysthymie, also an einer chronischen depressiven Verstimmung. Als seine damals sechsjährige Tochter vor mittlerweile zwanzig Jahren an einer Erbkrankheit starb, habe er begonnen, sich Hilfe zu holen. Doch weder Therapien noch Aufenthalte in Tageskliniken noch Antidepressiva verschafften ihm Besserung.
Lipinski gilt als behandlungsresistent und wurde deshalb als Proband in der Psilocybinstudie akzeptiert. Nach telefonischen Vorgesprächen musste der Familienvater mehrmals zum medizinischen Screening antreten, darauf folgten psychotherapeutische Vorgespräche, dann die beiden Substanzsitzungen im Abstand von sechs Wochen.
Weil es sich bei EPIsoDE um eine Doppelblindstudie handelt, weiß Andreas Lipinski nicht offiziell, welche Substanz er in welcher Dosierung bekommen hat: ein aktives Placebo (andere wirksame Substanz), eine mittlere oder eine hohe Dosis Psilocybin. Das Problem ist aber, und dieses Dilemmas sind sich auch die Forschenden bewusst: Psychedelika lassen sich wegen ihres starken halluzinogenen Effekts de facto nicht vollständig verblinden. Entweder man spürt den Substanzeffekt oder nicht.
Lipinski hat also eine ziemlich genaue Vorstellung davon, was er bekommen hat. „Bei mir ist es eigentlich ideal gelaufen“, sagt er. Er habe das Glück gehabt, in der Gruppe zu landen, die zuerst die kleine Dosis von 5 Milligramm bekommen habe und dann die große von 25 Milligramm. „Also zweimal die echte Dosis, aber ein sanfter Einstieg."
Schamgefühle ziehen vorbei
Beide Erfahrungen habe er als transformativ empfunden. „Bei der niedrigen Dosis habe ich mein Leben wie im Schnelldurchlauf an mir vorbeiziehen sehen“, sagt Lipinski: Situationen aus der frühesten Kindheit bis ins Erwachsenenalter – meist negativ beladen mit Scham- und Schuldgefühlen –, Erinnerungen an tabuisierte Wünsche und als sündhaft gelabelte Neugier.
Irgendwann (genau erinnere er sich nicht, das Zeitgefühl habe er gleich zu Beginn verloren) seien diese negativen Emotionen wie weggewischt gewesen. „Urplötzlich war dieses dunkle Gefühl weg“, sagt er, so als könnte er es immer noch nicht ganz glauben. „Dann waren es einfach nur noch Erinnerungen, aber ohne Schuldgefühle.“ An ihre Stelle trat ein Gefühl von Befreiung, „eine Art Läuterung“. „Ich glaube nicht an Wunder oder Spontanheilung. Aber tatsächlich, die Veränderung war massiv.“
Sechs Wochen später dann die zweite Substanzsitzung. „Die Wirkung kommt ziemlich schnell“, berichtet Lipinski. Etwa 20 Minuten, dann spüre man was. „Nach einer Dreiviertelstunde ist man in einem komplett anderen Universum und da hört es auf mit klaren Erinnerungen.“ Was ihm geblieben sei, sei die Erinnerung an einen dunklen Raum, „eine Höhle, nicht angsteinflößend, aber schon ein bisschen unangenehm“. Er habe gewusst: Hier muss ich bleiben, weil das nun mein Ende ist. Der einzige rationale Gedanke, an den er sich erinnern könne, sei nun gewesen: „Das ist doch ganz schön, wirklich sehr angenehm.“
Lipinski macht eine Pause und mustert sein Gegenüber mit fragendem Blick. „Ich weiß, das hört sich ein bisschen verrückt oder esoterisch an“, sagt er dann. „Aber das war das absolut Wesentliche an der gesamten Studie für mich.“ Zu wissen: „Der Tod fühlt sich schön an. Das hätte ich niemals gedacht. Und dieses tröstliche Gefühl ist geblieben. Die Gewissheit, dass mir eigentlich nichts passieren kann, die ist immer noch da.“
Wie führt man den Prozess zu Ende?
Seitdem gehe es ihm besser, auch wenn die Depression natürlich noch nicht völlig verschwunden sei. „Etwa ein Drittel der Patientinnen und Patienten profitiert richtig gut“, sagt Gerhard Gründer. Er ist Professor für Psychiatrie und Leiter der Abteilung für Molekulares Neuroimaging am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim und leitet die deutsche Psilocybinstudie. „Noch mal ein Drittel profitiert in gewisser Hinsicht und bei etwa einem Drittel hilft die Behandlung nicht.“ Gründer wird deshalb nicht müde zu betonen, dass Psychedelika keine Wunder- oder Allheilmittel sind.
Und dann ist da eben das Problem, dass es derzeit keine legale Behandlungsmöglichkeit gibt. Und auch keine reguläre Möglichkeit, Patientinnen, die Teil der Studie sind, bei Bedarf mit zusätzlichen Substanzsitzungen weiter zu therapieren. Was also wenn zweimal Psilocybin einfach nicht reicht? Wenn ein Prozess angestoßen wurde, aber nicht zu Ende geführt werden kann? Ein Abhängigkeitsrisiko bestehe nicht, sagt Gründer. Was man dagegen nicht genau wisse, ist, wie lange der Effekt anhält. Und eben auch nicht, wie vieler solcher Behandlungen es letztlich bedarf.
Lipinski sagt, er habe für sich einen Weg gefunden, die Behandlung mit Psychedelika im privaten Rahmen fortzuführen – mit „legalem LSD“, das man im Internet bestellen kann. Auch das funktioniert wegen einer Lücke im Gesetz. Was da verkauft wird, ist 1D-LSD, also ein chemisch leicht verändertes Derivat der Ausgangssubstanz, das nicht unter das Betäubungsmittelgesetz fällt. Es handelt sich aber um Forschungschemikalien, zu denen es bislang keine Studien gibt, da sie nicht zum Verzehr bestimmt sind. Über Nebenwirkungen im Selbstversuch existieren keine verlässlichen Daten. Was ebenfalls fehlt, ist die begleitende Psychotherapie, die eigentlich als zentraler Bestandteil zur Behandlung gehört und die, auch das zeigen erste Studien, maßgeblich zum Behandlungserfolg beiträgt.
"Nicht nur ihr wart traurig, ich war es auch"
Am dritten Tag meines Retreats in Holland werden die Trüffeln serviert. Die Tasse, die wir bekommen, ist zur Hälfte mit der knolligen schwarzbraunen Substanz gefüllt. Aufgegossen wird mit Ingwertee. Der Sud trübt milchig, fast blaustichig ein. Er hat eine erdige Pilznote. Kurz darauf spüre ich, wie meine Gelenke schwer werden, im Nacken kribbelt es. Die weißen Streifen auf meiner Bettdecke beginnen sich in Regenbogenfarben gegeneinander zu verschieben. Die Musik ist traurig. Ich beginne zu weinen. Diesmal ist es nicht nur eine verschämte Träne, sondern ein ganzer Strom, der aus meinen Augen schießt.
Ein Gedanke manifestiert sich in meinem Kopf – klar und unüberhörbar. Wie die Ouvertüre für meinen Trip. „Es war nicht nur eure Tochter, die gestorben ist“, denke ich. Oder höre ich eine Stimme in meinem Kopf, die spricht? „Es war nicht nur eure Tochter, die gestorben ist, sondern auch meine Schwester“, wiederholt die Stimme mit Nachdruck. Ist das mein Unterbewusstsein? „Nicht nur ihr wart traurig, ich war es auch“, sagt sie.
Wie diese Einsicht so unvermittelt in mein Bewusstsein gelangt ist, weiß ich nicht, aber ich erinnere mich an meine Intention: Ich wollte wissen, woher die Traurigkeit kommt, die mich schon so lange begleitet. Ist das nun eine Antwort darauf?
Ich weiß genau, wovon die Rede ist. Als ich sechs Jahre alt war, starb meine damals 16-jährige Schwester bei einem Autounfall. Ich habe in zahlreichen Therapiestunden darüber gesprochen. Ich dachte, ich hätte das alles so weit verarbeitet. Nun bin ich nicht mehr sicher. Ich weiß, dass meine Eltern getrauert haben. Aber was war damals mit mir? Das erinnere ich nicht. Vielleicht weil es damals keinen Raum für die Gefühle eines sechsjährigen Kindes gab? Ist das die Trauer, die mich nicht loslässt? Als sich diese Erkenntnis zu setzen beginnt, streife ich die Schlafmaske über, die man uns gegeben hat, und lege mich hin.
Dort, im Inneren meines Geistes, tut sich ein neues Universum auf. Ein Ort, der neben oder außerhalb unserer Realität zu existieren scheint. Es ist kein Film, der vor dem inneren Auge abläuft. Eher ein Hineinzoomen in mein jeweiliges Empfinden zu einer bestimmten Zeit. So als rattere mein Gehirn durch eine Festplatte mit gespeicherten Emotionen. Als sie einrastet, bin ich sehr, sehr jung. Vielleicht zwei oder drei Jahre alt. Mein rationaler Geist, der die ganze Zeit über anwesend ist, fragt sich: „Erinnert man sich überhaupt an dieses Alter?“ Offenbar schon, denn nun bin ich dort.
Als Lachen verboten war
„In meiner Familie gab es einfach gar keine Freude“, halltein neuer Gedanke durch meinen Kopf. „Absolut keine Freude… Freude… Freude…“ Eine Erinnerung, in der wir alle zusammen Spaß hatten, findet sich in meiner Rückschau nicht.
Ich nehme wahr, wie die Tripsitter links und rechts von mir leise mit den anderen Teilnehmenden sprechen und sich um diese kümmern. Wir alle in der Runde, so scheint es, sind wieder zu Kleinkindern geworden, zart, mit all unseren unerfüllten Wünschen und Bedürfnissen, nicht mehr in der Lage, diese zu verstecken.
Ich habe mich auf die Seite gelegt und zusammengerollt, als ich hinter mir Tripsitterin Bosses leise Stimme höre. „Ist es okay, dass ich ein bisschen bei dir bin?“, flüstert sie mir liebevoll ins Ohr. Als ich ja sage, legt sie mir sanft die Hand zwischen die Schulterblätter. Es fühlt sich an, als würde sie durch meinen Rücken hindurch mein Herz berühren.
Ich frage mich, wie viel Zeit vergangen ist, als ich auf die Dachschräge blicke, die im Sonnenlicht funkelt und glitzert. Mein Körper wird von Freude geflutet, die so stark ist, dass ich sie kaum aushalten kann. Ich träume mit offenen Augen und sehe eine Familie. Kinder und Eltern lachen ausgelassen und toben im Sonnenschein über die Wiese. Die nächste Szene ist eine Kissenschlacht. Ich sehe, wie sich die Familie müde und zufrieden aneinanderkuschelt. Ich fühle ihr Glück, als sei es mein eigenes. Als würde ein Akku in meiner Seele aufgeladen, der bislang leer war.
Augmentierte Therapeutin in Ausbildung
In den Räumen der Mind Foundation in Berlin-Friedrichshain schnappt sich Susanne Markus-Sellhaus noch schnell ein paar Nüsse zu ihrem Tee, dann geht der Unterricht auch schon weiter. Seit vielen Jahren schon arbeitet die 54-Jährige als Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie. In einer Tagesklinik in Nordrhein-Westfalen behandelt sie Menschen mit depressiven Störungen, Angst- und Zwangsstörungen, Persönlichkeitsstörungen und sogenannten Somatisierungsstörungen, also zum Beispiel chronischen Schmerzen. An diesem Samstag Ende September 2023 ist Markus-Sellhaus nach Berlin-Friedrichshain gekommen, um etwas zu lernen, was es offiziell noch gar nicht gibt.
Die Mind Foundation, ein Lobbyverband, der sich für die Zulassung von Psychedelika in der Therapie einsetzt, aber auch an der Finanzierung und Durchführung der Psilocybinstudie beteiligt ist, bietet für 15000 Euro eine Schulung an, die sich „Weiterbildung augmentierte Therapie“ nennt. Ärztinnen, Psychotherapeutinnen und weitere Fachkräfte im Bereich der psychischen Gesundheit sollen in fünfzehn Monaten lernen, wie man Patientinnen in Substanzsitzungen und danach therapeutisch betreut.
Geübt wird auch mit breathwork, also bewusstseinserweiternden Atemtechniken, und mit Ketamin, einem Notfallanästhetikum, das zur Akutbehandlung von Depressionen bei manchen Patienten gute Wirkung zeigt.
Ketamin und Musik
Offiziell zugelassen für die Behandlung von Depressionen ist in Deutschland ein Ketamin-Nasenspray. Jedoch werden im klinischen Setting oft auch Ketamin-Infusionen im off-label use angewandt. Obwohl das Narkosemittel dafür nicht ausdrücklich zugelassen wurde, ist die Gabe aufgrund der ärztlichen Therapiefreiheit erlaubt. Begleitet von Musik kann das Narkosemittel psychedelische Zustände hervorrufen.
„Es gibt immer wieder Patientinnen und Patienten, bei denen ich das Gefühl habe, wir können denen nicht gerecht werden“, sagt Markus-Sellhaus über ihre Motivation, sich für die Weiterbildung anzumelden. „Wir kommen nicht weiter und eigentlich bräuchten wir eine andere Methode, um an den Punkt zu kommen, um den es geht.“
Als sie 2019 die Gründer der Mind Foundation auf einem Kongress für Psychiaterinnen und Therapeuten über die Behandlung mit Psychedelika sprechen hört, ist sie sofort interessiert. „Was mich da so angefixt hat, war einerseits die Arbeit mit chronisch depressiven Menschen“, berichtet Markus-Sellhaus, also ihr eigenes Fachgebiet. „Aber fast noch spannender fand ich die Anwendung bei Menschen mit unheilbaren Erkrankungen, die große Angst vor dem Tod haben. Zu sehen, dass das den Menschen hilft, in den Frieden zu kommen.“ Da habe sie gedacht: „Das will ich auch können.“
Loslassen und Zulassen
Nun sitzt Markus-Sellhaus gemeinsam mit 19 anderen Ärztinnen, Therapeuten und Sozialarbeiterinnen in einem lichtdurchfluteten Raum unter der Dachschräge und erzählt von ihrer letzten Ketamin-Selbsterfahrungssitzung. Die Infusion dauert um die vierzig Minuten. „Nach zehn oder fünfzehn Minuten ist man voll in der Substanz drin“, sagt sie. Was man dann erlebe, sei ein schwebendes Gefühl. „Das Körpergefühl wird weniger, aber der Geist ist ganz klar.“
Vor der Sitzung hatte sie gemeinsam mit den beiden Therapeuten in ihrer Lerngruppe ihre persönliche Intention für die Sitzung besprochen. Welche das war, will sie nicht schildern, auch zum Schutz der Personen, um die es geht. Aber sie sagt: „Ich bin reingegangen und war schon emotional sehr aufgewühlt und dann öffnen sich so Tore.“
Markus-Sellhaus erzählt von einem inneren Schmerz, den sie habe zulassen können, von Ängsten und dem Gefühl, innerlich verknotet zu sein. „Irgendwann habe ich dann angefangen zu weinen. Ich konnte loslassen und meine Trauer zulassen.“ Danach habe sie sich sehr friedlich gefühlt.
„Das Gefühl nach der Sitzung war: Alles darf so sein, wie es ist.“ Bei der Ausbildung der Mind Foundation geht es auch um die Frage, wie sich das Gelernte schon jetzt – auch ohne die Zulassung von psychedelischen Substanzen – in die tägliche Arbeit integrieren lässt. „In meiner Klinik sind einige skeptisch“, sagt Susanne Markus-Sellhaus. „Meine Chefin sagte spontan dazu ,Drogentherapie‘.“ Immerhin: Man habe sie ganz offiziell zur Weiterbildung fahren lassen.
Falls die Behandlung mit Psychedelika eines Tages auch in Deutschland zugelassen wird – Experten und Expertinnen schätzen, dass das frühestens in vier bis fünf Jahren möglich sein wird, vorausgesetzt natürlich, dass große klinische Studien tatsächlich Sicherheit und Wirksamkeit belegen –, will Susanne Markus-Sellhaus sich auch darauf spezialisieren. Es sei für sie sehr reizvoll, zu den Pionierinnen zu gehören, sagt sie. Auch deshalb weil sie aus eigener Erfahrung wisse: Unter dem Einfluss dieser Substanzen könne man Schritte gehen, die anders vielleicht nicht möglich seien und die dann nachhaltig blieben.
Anders in der Welt stehen
Seit meinem Trüffelretreat in den Niederlanden sind mittlerweile mehr als anderthalb Jahre vergangen. Ich stelle fest: Der Effekt ist geblieben. Ich fühle mich leichter; so als hätte ich etwas loslassen können, an dem ich zuvor schwer getragen habe, ohne es zu realisieren.
Ich habe den Eindruck, jetzt in mancher Hinsicht anders in der Welt zu stehen. Gelassener, weniger reaktiv in Situationen, in denen ich mich zurückgewiesen und damit an früher erinnert gefühlt habe. Irgendwie erwachsener als zuvor und offener im Herzen. Besser in der Lage, Liebe zuzulassen. Wie viel davon der Trip allein bewirkt hat, kann ich schwer sagen, denn ich war auch die ganze Zeit über in psychotherapeutischer Behandlung. Aber ich denke: Beides hat mir ziemlich gutgetan.
Wollen Sie mehr zum Thema erfahren? Dann lesen Sie gerne auch, was der DGPPN-Präsident und Psychiater Andreas Meyer-Lindenberg über Potential und Zulassung psychedelischer Substanzen in der Psychotherapie zu sagen hat in "Psychedelika drücken den Resteknopf im Gehirn".
Fünf psychedelische Substanzen
Psilocybin ist der psychoaktive Wirkstoff in Magic Mushrooms, also psychoaktiven Pilzen. Die Substanz kann einen psychedelischen Rausch mit visuellen Halluzinationen auslösen. Für die Anwendung in klinischen Studien wird Psilocybin im Labor synthetisiert und in Kapselform an die Probanden verabreicht. Psilocybinhaltige Pilze kommen weltweit in über hundert verschiedenen Arten vor. Ihr ritualisierter Konsum ist Teil der schamanischen Tradition, vor allem in Mittelamerika.
Magic Truffles sind das unterirdische Wurzelgeflecht halluzinogener Pilze. Ebenso wie der Fruchtkörper von Magic Mushrooms enthalten sie Psilocybin, also den psychoaktiven Wirkstoff, der einen Trip auslösen kann. In den Niederlanden dürfen Trüffel aufgrund einer Gesetzeslücke legal verkauft werden. Anders als in synthetisch hergestelltem Psilocybin schwankt der Wirkstoffgehalt der psychoaktiven Substanz im Naturprodukt. Eine tödliche Dosis ist nicht bekannt.
LSD (Lysergsäurediethylamid) wurde 1938 erstmals durch den Schweizer Chemiker Albert Hofmann aus Mutterkorn, einem Getreidepilz hergestellt. Die halluzinogene Wirkung entdeckte er 1943. LSD wurde ebenso wie Psilocybin von dem Arzneimittelkonzern Sandoz in den 1950er und 1960er Jahren ausschließlich für Forschungszwecke produziert. Als der Konsum von LSD und Psilocybin in den 1960er Jahren zum Symbol der US-Gegenkultur aufstieg, stufte die US-Regierung diese – wie man heute weiß – fälschlich als „gefährliche Substanzen ohne medizinischen Nutzen“ ein.
Ketamin ist weltweit offiziell als Narkosemittel zugelassen und wird unter anderem in der Notfallmedizin angewendet und von der WHO als unentbehrliches Arzneimittel eingestuft.In der Off-Label-Anwendung (erlaubten Zweckentfremdung) werden Ketamin-Infusionen auch zur Behandlung von Depressionen eingesetzt. Ketamin wirkt dissoziativ und ist deshalb als Pulver auch als Partydroge beliebt. Eine Überdosierung kann zu Bewusstlosigkeit führen.
MDMA ist vor allem durch die Partydroge Ecstasy bekannt. 1986 wurde die Substanz weltweit verboten. Jedoch bekamen Mitglieder der Schweizerischen Ärztegesellschaft für Psycholytische Therapie (SÄPT) eine Ausnahmegenehmigung, um mit LSD, Psilocybin und MDMA zu behandeln, darunter auch Patientinnen mit posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS). Auch die US-amerikanische Food and Drug Administration erlaubte begrenzte Forschungsarbeiten zur MDMA-unterstützten Psychotherapie. Großangelegte Studien belegen, dass diese bei PTBS dauerhaft wirksam und nebenwirkungsarm ist.
Quellen
Charles Grob u.a.: Pilot study of psilocybin treatment for anxiety in patients with advanced-stage cancer. Archives of General Psychiatry, 2011, DOI: 10.1001/archgenpsychiatry.2010.116
Peter Gasser u.a.: Safety and Efficacy of Lysergic Acid Diethylamide-Assisted Psychotherapy for Anxiety Associated With Life-threatening Diseases. The Journal of Nervous and Mental Disorders, 513-520, 2014, DOI: 10.1097/NMD.0000000000000113
Roland Griffiths u.a.: Psilocybin produces substantial and sustained decreases in depression and anxiety in patients with life-threatening cancer: A randomized double-blind trial. Journal of Psychopharmacology, 1181-1197, 2016, DOI: 10.1177/0269881116675513
Robert Carhart-Harris u.a.: Psilocybin with psychological support for treatment-resistant depression: an open-label feasibility study. Lancet Psychiatry. 619-27, 2016, DOI: 10.1016/S2215-0366(16)30065-7
Ricardo Irizarry u.a.: Psilocybin as a Treatment for Psychiatric Illness: A Meta-Analysis. The Cureus Journal of Medical Science. 14(11), 2022, DOI: 10.7759/cureus.31796
Susan Kreimer: MDMA approval for post-traumatic stress disorder could come in 2024. Health News, 17.11.2023, MDMA approval for post-traumatic stress disorder could come in 2024 - UPI.com
Florence Butlen-Ducuing u.a.: The therapeutic potential of Psychedelics: The European regulatory Perspective. The Lancet. 10378, P714-716, 2023, DOI: 10.1016/S0140-6736(23)00264-7
Roberta Murphy u.a.: Therapeutic Alliance and Rapport Modulate Response to Psilocybin Assisted Therapy for Depression. Frontiers in Pharmacology. 2022, DOI: 10.3389/fphar.2021.788155